Bundesliga

Gräfe im Interview: "Stimmen die Kontakte, kannst du tun, was du willst"

Ex-Schiedsrichter geht hart ins Gericht

Gräfe im Interview: "Stimmen die Kontakte, kannst du tun, was du willst"

Ex-Schiedsrichter Manuel Gräfe spricht Klartext.

Ex-Schiedsrichter Manuel Gräfe spricht Klartext. picture alliance/dpa

Seine Klasse als Referee war stets über alle Zweifel erhaben. Von 2004 bis 2021 leitete Manuel Gräfe Spiele in der 1. Bundesliga, pfiff zwischen 2007 und 2018 auf FIFA-Ebene. Dennoch polarisierte der heute 50-Jährige schon zu aktiven Zeiten als Kritiker am Schiedsrichterwesen bzw. an seinen Vorgesetzten. 2005 trug Gräfe mit der Anzeige beim DFB aktiv zur Aufklärung des Wettskandals um seinen damaligen Berliner Schiedsrichterkollegen Robert Hoyzer bei. Nach Erreichen der bis dato gültigen Schiedsrichter-Altersgrenze von 47 Jahren 2021 verklagte er den DFB wegen Altersdiskriminierung und bekam in erster Instanz vom Landgericht Frankfurt Recht. Mit dem kicker spricht Gräfe über seine Geschichte und die persönliche Motivation als weiterhin kritischer Geist.

Herr Gräfe, kürzlich haben Sie die EM-Nominierung Ihres einstigen Kollegen Felix Zwayer via X als "Tiefpunkt einer Fehlentwicklung" bezeichnet, auch Daniel Sieberts Berufung skeptisch bewertet. Wie sehr genießen Sie die öffentliche Rolle als Chefkritiker des deutschen Schiedsrichterwesens?

Gar nicht. Die Unterstellung, ich würde mich so sehen oder gar eine persönliche Agenda verfolgen, ist genauso unzutreffend wie die Behauptung einzelner Journalisten, ich würde über Schirientscheidungen oder die Führung poltern oder wüten.

Sondern?

Ich analysiere auf Basis meiner 30-jährigen Tätigkeit und Innensicht Sachverhalte im Schiedsrichterbereich. Wer mich wirklich kennt, weiß, dass ich ein sehr geselliger Typ bin. Meine Motivation war und ist eine andere, als häufig unterstellt wird.

Fehlentwicklungen im Schiedsrichterbereich spreche ich an, weil sie dem Fußball schaden.

Manuel Gräfe

Nämlich?

Ich war selbst ein ambitionierter Fußballer und habe bis zur höchsten Jugendspielklasse gespielt, unter anderem mit Robert Kovac. Ich wollte gewinnen und hatte mit Schiedsrichtern sogar eher meine Probleme wegen ihrer meist distanzierten, oft auch arroganten Art. Irgendwann habe ich dann spontan nach einer Radiowerbung den Schiedsrichter-Schein gemacht, später noch die Trainer-B-Lizenz. Hauptsache, dem Fußball verbunden bleiben. Das ist heute noch mein Antrieb: Ich fühle mich mehr dem Fußball verpflichtet als Verbänden, Funktionären, Strukturen oder auch der Schiedsrichterei. Fehler bzw. Fehlentwicklungen im Schiedsrichterbereich spreche ich an, weil sie dem Fußball schaden. Das lässt sich an den Reaktionen der Spieler, Trainer, Manager und Medien fast wöchentlich festmachen.

Was bedeutet das mit Blick auf Zwayer und Siebert?

Zuallererst, dass ich beiden bei der EM viel Erfolg wünsche. Im Interesse einer gelungenen Heim-EM, des Fußballs sowie aller deutschen Schiedsrichter.

Aber?

Wenn ich nüchtern auf die Leistungen schaue, stelle ich fest: Zwayer ist sicher nicht der schlechteste Schiedsrichter der Bundesliga - aber auch nicht der beste. Im Bereich Persönlichkeit, aber besonders auch bei Zweikampfbeurteilung und Spielmanagement finden sich bei ihm nach wie vor limitierende Faktoren für einen Top-Schiedsrichter.

Manuel Gräfe bei einem Bundesliga-Spiel zwischen Bayern und Schalke im Jahr 2020.

Manuel Gräfe bei einem Bundesliga-Spiel zwischen Bayern und Schalke im Jahr 2020. imago images/Passion2Press

Und Siebert?

Angesichts seiner Fehler in den letzten zwei Jahren in der 1. und 2. Liga sowie gerade auch international kommt die Nominierung doch überraschend. Zwayer war im vergangenen Jahr sogar der etwas Bessere von beiden. Aber, wie kürzlich beim Spiel Leverkusen gegen Stuttgart, auch oft nicht frei von teils massiven Fehlern. Top waren leider beide nicht. Der EM-Gastgeber hat jedoch immer einen gewissen Bonus. Und wenn andere Verbände zwei Schiedsrichter stellen können, dann gesteht die UEFA eben auch dem großen DFB als EM-Gastgeber zwei Unparteiische zu. Ich halte ich das eher für ein Nominierungsgeschenk. Das eigentliche Problem heißt aber nicht Zwayer oder Siebert.

Sondern?

Es wurde versäumt, rechtzeitig die Richtigen zu fördern. Das ist das Kardinalproblem, und das haben die Schiedsrichterführungen des DFB zu verantworten, die seit 14 Jahren im Amt sind. Schauen Sie auf die anderen Verbände bei der EURO: Die Engländer sind mit zwei absoluten Topleuten dabei, die Italiener auch. Der 48-jährige Daniele Orsato hat im Champions-League-Halbfinalrückspiel Paris gegen Dortmund gezeigt, worauf es ankommt: Persönlichkeit und Fußballexpertise. Die Franzosen haben den ebenfalls erfahrenen Clement Turpin und den 35-jährigen Francois Letexier, der viel Potenzial mitbringt. Deutschland hat es verpasst, mindestens einen jungen Schiedsrichter mit solcher Perspektive aufzubauen.

"Jablonski hat das größte Potenzial der jungen Schiedsrichter"

Was hätten Sie anders gemacht?

Zum einen hätte man alles versuchen müssen, damit Deniz Aytekin auf internationaler Ebene nicht so früh aufhört. Er ist neben Felix Brych weiter unser bester Schiedsrichter und wäre international eigentlich Felix' legitimer Nachfolger gewesen. Doch man hat ihn international nicht gestützt, sondern nach dem Spiel Barca gegen PSG 2017 geradezu fallengelassen. Dahinter hätte man dann zwei, drei junge Schiedsrichter aufbauen müssen. An erster Stelle sicher Sven Jablonski. Stattdessen hat man ihn und weitere vertröstet, um Abstand zu schaffen zu anderen. Brych und ich kamen damals schon nach drei Bundesligasaisons auf die FIFA-Liste, konnten uns dort Schritt für Schritt entwickeln. Jablonski kam trotz direkt überzeugender Auftritte in der Bundesliga erst in seiner fünften Spielzeit dorthin. Natürlich unterlaufen Jablonski auch mal Fehler. Aber er hat im Gesamtpaket das größte Potenzial der aktuell jungen Schiedsrichter.

Wen sehen Sie noch?

Man hätte überlegen müssen: Wer ist aus dem Trio Florian Badstübner, Daniel Schlager, Matthias Jöllenbeck der Beste? Auch Benjamin Brand hätte man nach seiner mehrjährigen Verletzung noch in diesem Kreis aufnehmen können. Und dann die Genannten in ein offenes Rennen schicken müssen. Aber diese jungen Schiedsrichter machen aktuell zu viele Einzelfehler. Und es läge an der Führung, sie vernünftig aufzubauen und ihnen Orientierung zu geben.

Wen baut man für die WM 2026 auf? Da fehlt ein Plan.

Manuel Gräfe

Wäre Jablonski schon für die EM die bessere Wahl gewesen?

Auf alle Fälle hätte der DFB im vergangenen Winter darauf hinwirken müssen, dass Jablonski bei der UEFA in die First Group befördert wird. So hätte er problemlos für die EM nominiert werden können, und sei es vielleicht erst einmal für die Rolle als 4. Offizieller. Das hätte Sinn ergeben, auch um ihn schon in Richtung WM 2026 Erfahrung sammeln zu lassen. Wen baut man eigentlich mit Blick auf dieses Turnier auf? Das soll vielleicht wieder Zwayer oder Siebert sein. Doch eigentlich hätte Jablonski die größere Perspektive. Ich habe den Eindruck, Privates und Regionales stehen weiter dem Leistungsgedanken oft im Weg. Da fehlt es an einem nachvollziehbar leistungsgerechten zukunftsorientierten Plan, den Volker Roth (DFB-Schiri-Boss bis 2010, Anm. d. Red.) immer hatte.

Was war damals besser?

Roth dachte immer in Fünf-Jahres-Zyklen und hat so seine Topleute aufgebaut. Nach Markus Merk kam Herbert Fandel, dann Wolfgang Stark und danach Felix Brych. Auch unter Volker Roth gab es Politik - insbesondere bei internationalen Einsätzen. Aber über allem stand die Leistung. Wenn dann Schiedsrichter gleich gut waren, setzte die Politik ein. Deshalb hatte ich nie ein Problem mit Felix Brych, obwohl wir sportlich große Konkurrenten waren. Aber: Er war schon immer auch ein herausragender Schiedsrichter - und eben zwei Jahre jünger als ich. Auch deshalb konnte ich nachvollziehen, dass er für die Turniere nominiert wurde.

Manuel Gräfe bei der Platzwahl mit Marco Reus und Manuel Neuer.

Manuel Gräfe bei der Platzwahl mit Marco Reus und Manuel Neuer. imago/Uwe Kraft

Dagegen glauben manche, Sie seien verbittert, weil Sie nicht die große internationale Karriere machten.

Auch das ist ein Trugschluss oder bewusstes Diskreditieren meiner Person, um meine Argumente zu schwächen. Mir geht es um Leistungsgerechtigkeit. Man kann nicht jemanden, der schulisch auf einer 1 steht, auf eine 5 setzen und umgekehrt. Doch das hat unter Hellmut Krug und Herbert Fandel Einzug gehalten und unter anderem zur Fehlentwicklung in den letzten 14 Jahren geführt. Babak Rafatis Selbstmordversuch war für mich dann der Auslöser, den Mund aufzumachen.

Was hat Sie im Detail bewegt?

So etwas durfte nicht sein und sich erst recht nicht wiederholen. Mein Gedanke damals: Die Politik von Krug und Fandel kann man nicht verhindern. Aber wenn man dazu beiträgt, dass sich die Rahmenbedingungen verbessern - also mehr Geld, mehr Freiheiten, besseres Training, bessere medizinischen Betreuung - dann ist das andere leichter zu ertragen. Deshalb habe ich im Dezember 2011 das Interview bei 11 Freunde gegeben, in dem ich die politische Führung noch völlig außen vor gelassen und nur die Rahmenbedingungen kritisiert habe. Doch das hat zwischen Fandel und mir alles verändert.

Ich wurde kein Eliteschiedsrichter und erfuhr: Fandel wollte es nicht mehr.

Manuel Gräfe

Mit welchen Konsequenzen?

Eigentlich sollte ich damals in den Elite-Kreis aufrücken, doch das Interview erschien wenige Tage vor der entscheidenden UEFA-Sitzung. Bis dahin hieß es: Mit Pierluigi Collina (damals Chef der UEFA-Schiedsrichterkommission, Anm. d. Red.) sei alles abgestimmt, meine Leistungen waren top, ich war fit. Nichts sprach also dagegen. Dennoch wurde ich kein Eliteschiedsrichter und erfuhr: Fandel wollte es nicht mehr. Während er mir sagte: Pierluigi habe einen Rückzieher gemacht.

Worin bestand die "Politik von Krug und Fandel"?

Es kamen mit der Zeit de facto Schiedsrichter fast nur noch aufgrund von Loyalität und privater oder regionaler Verbindung in höhere Positionen, aber nicht mehr aufgrund von Leistung. Egal welche Fehler diese Schiedsrichter machten, es hatte keine Konsequenzen. Oder es wurde zurechtgebogen. Zunächst hatte mir Fandel monatelang ein Spitzenspiel nach dem anderen gegeben. Nach einem Jahr, im Spätsommer 2011, fragte er mich, wo ich mich in fünf Jahren sähe. Ich antwortete: Gerne als Back-up von Felix Brych, wenn die Älteren irgendwann mal oben raus sind. Und wenn Jüngere nachkommen, mache ich gerne Platz. Fandel war verwundert und entgegnete: Wer mit ihm mitziehe, könne alles erreichen. Er entscheide, wer zu einem Turnier fährt. Ich bedankte mich für sein Vertrauen, sagte aber: Ich kann mich nach oben und unten, glaube ich, realistisch einschätzen.

Wie ging es weiter?

Dasselbe Gespräch führte Fandel unter anderem auch mit Aytekin, Stieler und Zwayer. Diese bedingungslose Loyalität, wie sie Fandel auch von mir erwartete, aber nicht erhielt, bekam er von anderen. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Grundsätzlich ist Loyalität gut und wichtig. Doch für mich endet sie genau da, wo Menschen und dem ganzen System Fußball derart geschadet wird. Und das System hat nun bedauerlicher Weise auch unter Fröhlich als verantwortlichem Schiedsrichter-Chef gelitten.

Woran machen Sie das fest?

An vielem. International stehen deutsche Schiedsrichter nicht mehr ansatzweise da, wo sie noch vor einigen Jahren gesehen wurden. Roberto Rosetti (aktuell Chef der UEFA-Schiedsrichterkommission, Anm. d. Red.) sprach auf der Halbzeittagung der UEFA von den "ehemals großen" deutschen Schiedsrichtern. Aber auch an der nun wieder offensichtlich regional und privat forcierten EM-Nominierung zweier Berliner Schiedsrichter, dem Nachwuchs- und Strukturproblem im gesamten Schiedsrichterbereich und dem weiter fehlenden Leistungsgedanken in der Bundesliga.

Die Zahl der Einsätze steht praktisch fest - das untergräbt das Leistungsprinzip.

Manuel Gräfe

Worin spiegelt der sich wider?

Darin, wie viele Fehler auf dem Platz gemacht werden und wie oft der VAR eingreifen muss, ohne dass es Konsequenzen nach sich zieht. Wenn ein Schiedsrichter viele Spiele ohne Videoschiedsrichter durchkommt, muss er doch mal zwei, drei Spiele mehr bekommen. Und wer etliche Male den Videoschiedsrichter zur Korrektur benötigt, darf nicht noch belohnt werden. Aber die Zahl der Ansetzungen wird plus minus ein Spiel schon vor der Saison festgelegt. Früher schwankte die Verteilung bezogen auf einzelne Schiedsrichter zwischen 6 und über 20 Spielen. Heute liegen, außer durch Verletzungen verursacht, nur noch wenige Spiele Differenz zwischen den einzelnen Schiedsrichtern. Das heißt: Die Zahl der Einsätze steht praktisch fest, egal wie du pfeifst. Das untergräbt das Leistungsprinzip. Und wenn der DFB-Schiedsrichter-Bereich alles so vorlebt, muss man sich über das Verhalten in Regional- oder Landesverbänden nicht wundern.

Warum wird das Ihrer Ansicht nach im Spitzenbereich so gehandhabt?

Fröhlich wählte damit den Weg des geringsten Widerstands. Alle bekommen ihre Spiele, alle verdienen Geld, so hat er seine Ruhe. Aber so funktioniert doch Führung nicht im Leistungssport. Führungsqualitäten verlangen auch unbequeme oder unpopuläre Entscheidungen. Die Art der Führung Fröhlichs zeitigte so leider keinen Erfolg. Volker Roth hingegen verantwortete die erfolgreichste Zeit des deutschen Schiedsrichterwesens nicht ohne Grund. Er war eine absolute Respektsperson, unabhängiger Unternehmer, national wie international höchst anerkannt. Wenn man bei ihm über die ganze Saison zwei oder drei gravierende Fehler machte, war man ein Abstiegskandidat - umso mehr konzentrierte und fokussierte sich jeder Schiedsrichter. Heute stehen manche Schiedsrichter in einem Spiel zwei oder dreimal in der Review-Area - und pfeifen zwei Wochen später trotzdem wieder das nächste attraktive Spiel. Dadurch ergibt sich weder ein Lern- noch ein Motivationseffekt. Ein weiteres Problem: Früher waren wir Schiedsrichter das 19. Team der Liga. Auf dem Platz wollte jeder sportlich der Beste sein, aber daneben haben wir uns gegenseitig unterstützt. Auch das hat sich radikal verändert. Einige Schiedsrichter suchten mit allen Mitteln den persönlichen Erfolg.

Mitunter greift der VAR aber auch zu Unrecht ein, und der jeweilige Schiri kann gar nichts dafür ...

Das gehört mit zur Führungsproblematik. Es wird zu häufig gar nicht geführt, auch weil man sich alles offenhalten will. So fehlt die nachvollziehbare eindeutige Einordnung vieler Szenen, egal ob Handspiel, Rote Karten, Elfmeter oder Abseits und daher auch weiterhin eine klare Definition der Eingriffsschwelle beim VAR. Das ist einer der Gründe, warum ich die Trainer-Challenge gutheiße, die nun endlich auch von der FIFA getestet wird. DFB und DFL sollten prüfen, der FIFA anzubieten, die Challenge doch schon in der nächsten Saison auf höchster Ebene in der Bundesliga zu testen. Bei der aktuellen Schiedsrichterführung herrscht oft die Einstellung: Mal schauen, wie die mediale Reaktion ausfällt. Gibt es keine, dann wird der Mantel des Schweigens ausgebreitet, ist die Entscheidung auch noch so falsch. Gibt es eine mediale Reaktion, aber man mag den Schiedsrichter, wird versucht, es weg zu moderieren. Damit macht man es jedoch den anderen Schiedsrichtern in den kommenden Wochen schwerer, weil die ja wissen: Eigentlich ist es falsch. Und nur wenn der Protest von Öffentlichkeit und Klubs ganz groß ist, rudert die Schiri-Führung zurück. Aber manchmal denke ich inzwischen auch: Vielleicht können sie es wirklich nicht besser.

Zwei gleiche Szenen werden komplett unterschiedlich bewertet - das schadet dem Fußball wie den Schiris.

Manuel Gräfe

Wird deshalb der VAR öffentlich nach wie vor eher als Ärgernis wahrgenommen denn als Hilfe?

Es war eine meiner größten Fehleinschätzungen, zu glauben, dass die Entscheidungen dank des VAR einheitlicher würden und die Leistungsunterschiede der Schiedsrichter weniger offensichtlich. In der Theorie waren wir uns früher bei den Bildern zu 95 Prozent einig. Aber in den letzten Jahren sind wir auch da immer weiter auseinandergerückt. Der eine Schiedsrichter sagt: Ball gespielt, Kontakt danach ist eher Unfall. Der andere will Rot, weil er dieselbe Aktion als gesundheitsgefährdend bewertet. Ähnlich ist es bei Handspielen. Wenn das dann so stehenbleibt und die Führungsebene um Fröhlich sagt: beides ist möglich - dann entsteht Chaos. Deshalb wurden des Öfteren zwei gleiche Szenen auf verschiedenen Plätzen komplett unterschiedlich bewertet. Und das schadet dem Fußball wie den Schiedsrichtern.

Sie schrieben, Fröhlich habe mit der Berufung Zwayers und Sieberts "sein Vermächtnis geschaffen".

Es ist doch bezeichnend, wenn es einem DFB-Schiedsrichter-Chef aus Berlin gelingt, zwei Berliner Schiedsrichter zu einer EM nominiert zu bekommen. Man darf sich gegenseitig schon mal helfen, aber im Interesse des gesamten Systems muss es doch Grenzen der privaten und regionalen Verbindungen geben. Fröhlich hat Zwayer seit dessen 14. Lebensjahr beobachtet und gefördert. Heißt also: Stimmen die Kontakte, kannst du tun, was du willst, du schaffst es trotzdem zur EM und bist damit vermeintlich Vorbild für 50.000 deutsche Schiedsrichter. Dieser Eindruck ist doch fatal.

Sie spielen auf Zwayers Beteiligung am Hoyzer-Skandal 2005 an. Warum ist das für Sie heute immer noch so relevant?

Weil es um die Vorbildfunktion in seiner Rolle als Schiedsrichter geht. Überhaupt nicht um Felix als Person. Doch wenn ein Richter Geld annimmt, um einen kleinen Gangster laufen zu lassen - glauben Sie, er wird dann noch mal Richter am Bundesgerichtshof? Sicher nicht. Zwayer wurde vom eigenen Verband erst gesperrt und dann wegen Annahme von Geld sowie verspäteter Meldung verurteilt. Erst durch die Verspätung waren weitere Manipulationen Robert Hoyzers wie die im Pokalspiel Paderborn gegen den HSV möglich. Zwayers Mitteilung an mich kam auch nicht proaktiv. Sondern erst, als ich ihm sagte, dass ich Hoyzer definitiv dem DFB melden werde. Lediglich gemäß Zwayers Lügenkorsett bzw. laut dem Sprech der aktuellen DFB-Schiedsrichterführung ist er nur aufgrund einer Aussage-gegen-Aussage-Situation zwischen ihm und Hoyzer vom DFB verurteilt worden.

Mit meinen Wertevorstellungen ist es nicht vereinbar, dass Zwayer eine EM pfeift.

Manuel Gräfe

Sondern?

Das zu glauben, wäre sehr naiv. Nicht ohne Grund war er Beteiligter für Polizisten, Staatsanwaltschaft und Gericht. Es gab Aussagen von anderen Beteiligten und Beschuldigten wie den Sapinas, Hoyzers und Zwayers Freunden sowie Tatsachenschilderungen von ihm selbst, in denen er sich widersprach oder die nicht mit faktisch belegten Abläufen übereinstimmen konnten. Ich erfuhr das alles erst viel später. Es lässt sich aber sogar durch Zwayers widersprüchliche mediale Aussagen lange nach dem Wettskandal nachvollziehen, zum Beispiel im Interview mit Sky und dann im ZDF-Sportstudio. Außerdem kenne ich auch die Aussagen in den Akten. Deshalb ist es mit meinen Wertevorstellungen und denen vieler anderer Schiedsrichter national wie international nicht vereinbar, dass er als oberster Repräsentant aller deutschen Schiedsrichter eine EM pfeifen soll. Aufgrund der eigentlich strikten Zero-tolerance-Strategie bei UEFA und FIFA zu Match Fixing wurden Schiedsrichter aus anderen Ländern schon lebenslang gesperrt, die nur einen einzigen Anwerbeversuch nicht gemeldet hatten.

War es also okay, dass Jude Bellingham nach dem Spiel Dortmund gegen Bayern im Dezember 2021 sagte: Was soll man von einem Schiedsrichter erwarten, der schon mal ein Spiel manipuliert hat?

Ich kann es aus der Emotion heraus verstehen. Aber natürlich ist es nicht in Ordnung, das mit Zwayers aktueller Schiedsrichterleistung in Verbindung zu bringen, auch wenn die in besagtem Spiel nicht gut war. Doch genau solchen Dingen wird unnötig Vorschub geleistet. Auch bei der EM wird das zu Problemen führen, wenn er umstrittene Entscheidungen fällt. Bei Spielen im Ausland, zum Beispiel England oder Frankreich, hat man das schon erlebt. Ich persönlich glaube aber sowieso, dass Zwayer und Siebert nicht viele Spiele bekommen werden.

Wie Fröhlich, Zwayer und Siebert kommen auch Sie aus Berlin.

Aber solche Aspekte haben für mich nie eine Rolle gespielt. Den Fall Hoyzer habe ich in meinem ersten Bundesliga-Jahr seinerzeit selbst ermittelt und via Lutz Michael Fröhlich dem DFB gemeldet. Da habe ich meine gesamte Karriere aufs Spiel gesetzt. Hätte Hoyzer geschwiegen und hätten sich die Vorwürfe nicht beweisen lassen, wäre ich erledigt gewesen oder zumindest meine Karriere nicht mehr so verlaufen. Aber wer manipuliert, sollte keinesfalls mehr als Schiedsrichter auf dem Platz stehen. Schon dieser Fall zeigt doch, wie unsinnig es ist, mir eine Agenda zu meinem persönlichen Vorteil zu unterstellen. Im Gegenteil: Hätte ich als Aktiver mehr an mich gedacht, hätte ich wahrscheinlich noch viel mehr erreichen können.

Zimmermann brüllte und drohte bei den Honorarverhandlungen.

Manuel Gräfe

Inwiefern?

Viele Konflikte sind nach meinem erwähnten Interview im Dezember 2011 entstanden, als ich gerade bei Fandel hoch im Kurs stand. Zudem habe ich einige Jahre später die Honorarverhandlungen mit dem DFB geführt. Felix Brych hatte diese begonnen, dann aber beim Stand von 4200 Euro pro Bundesligaspiel an mich abgegeben, weil er die Unterstützung des DFB fürs kommende Turnier benötigte. Nach harten Auseinandersetzungen mit DFB-Vizepräsident Ronny Zimmermann waren wir dann bei 5000 Euro pro Spiel. Mein Assistent Guido Kleve, der Sprecher der Schiedsrichter-Assistenten war, und ich haben also letztlich erreicht, dass jeder Schiri in der Bundesliga 800 Euro und jeder Assistent 400 Euro mehr pro Spiel in der Tasche hatte.

Mit welchen Argumenten?

Wir hatten die Manager und Präsidenten der Klubs auf unserer Seite. Für sie war die Erhöhung in Ordnung, weil sie den immer weiter wachsenden Aufwand der Schiris und die damit einhergehenden beruflichen und finanziellen Einschränkungen erkannt haben. Verband, Klubs und Fans wollen Leistungen auf Top-Niveau in diesem Milliardenbusiness, da sollte man wegen ein paar 100 Euro pro Spiel derart streiten, wie ich es mit dem DFB-Vize leider tun musste. Zimmermann fragte, was ich machen wolle, wenn er nicht einwillige. Ich meinte: Dann müsste der DFB eben mal für ein Wochenende Schiris aus anderen Ländern anfordern. Ab diesem Moment hätte ich das Telefon acht Meter vom Ohr weghalten können und hätte trotzdem noch jedes Wort von Zimmermann verstanden.

Was hat er geantwortet?

Er brüllte und drohte: Wer hier jemals streike, werde nie wieder ein Stadion für den DFB betreten. Letztlich wurde nach weiteren Rücksprachen mit den Bundesliga-Managern und der DFL - damals vor allem dank Christian Seifert - doch zugestimmt. Ich habe mich aber natürlich auch damit nicht beliebter gemacht. Jahre später kam dann die Retourkutsche, als ich wegen der Altersgrenze mit 47 nicht weiter pfeifen durfte, obwohl es leistungsmäßig keine Argumente gab und sich so viele Trainer, Manager und Spieler dankenswerterweise für mich einsetzten. Trotzdem war der DFB nicht bereit, für mich eine Ausnahme zu machen und die Altersgrenze aufzuheben.

Viele hören frustriert auf, weil sie mit Anfang 20 schon als zu alt gelten.

Manuel Gräfe

Einer Ihrer Kritikpunkte ist auch die Nachwuchsförderung, in der Spitze wie in der Breite.

Bestes Beispiel ist doch VAR-Chef Jochen Drees. Er kam erst mit 35 Jahren in die Bundesliga. Heute wird Schiedsrichtern mit 23 in der Landesliga gesagt: Du bist zu alt für den Aufstieg, wir nehmen einen Jüngeren. Diesbezüglich bekomme ich viele Nachrichten aus allen Landesverbänden. So nimmt man vielen Talenten eine Perspektive, die sich vielleicht etwas später entwickeln oder später angefangen haben. Auch das führt zum enormen Verlust an Schiedsrichtern. Heute hören viele frustriert auf, weil sie mit Anfang, Mitte 20 schon als zu alt gelten, um noch weiterzukommen. Das alles sorgt für eine Gemengelage, in der seit Volker Roths Abschied vor 14 Jahren die Zahl der Schiedsrichter von 80.000 auf unter 50.000 gesunken ist.

Mit Folgen bis in die Spitze?

Ja. Man muss doch den Pool so groß wie möglich halten, um nicht so sehr die Laufstärksten herauszufiltern, sondern auch die mit großer Persönlichkeit und Fußballkompetenz. Man konzentriert sich aber viel zu sehr aufs Laufen und das Alter. So wird das Angebot unnötig verknappt, wodurch viele Talente verlorengehen.

Ihre Kritik an den Lauftests wurde gerne auch mal mit Gerüchten um Ihre Fitness in Zusammenhang gebracht.

Auch das wurde bewusst aus DFB-Kreisen lanciert, ist aber nachweislich unwahr. Ich habe alle Langstreckentests des DFB in über zwei Jahrzehnten bis zum Schluss mit 47 Jahren immer auf Anhieb bestanden und bin nicht einmal durchgefallen. Auch die Sprints machten mir nie Probleme. Trotzdem habe ich zum Beispiel den Zeitpunkt der Tests kritisiert. Sie wurden und werden meist immer noch unsinniger Weise Anfang, Mitte Juli vier bis sechs Wochen vor Bundesligastart durchgeführt. Viele Schiedsrichter haben also eher nach der Saison durchtrainiert, um den Test zu bestehen und sind danach in den Urlaub gefahren. Ich startete mit meiner Vorbereitung nach kurzer Regenerationsphase mit einem persönlichen Trainingslager erst zwei Wochen vor den DFB-Tests. Denn nicht nur wegen meines sportwissenschaftlichen Studiums habe ich mich immer auf die Saison und nicht gezielt auf die DFB-Tests vorbereitet.

Aber Fitnessvoraussetzungen muss es doch geben.

Natürlich. Doch die Tests in der aktuellen Form sind nicht nur vom Zeitpunkt her unsinnig. Weder spiegeln sie die Belastung im Spiel wider, noch macht es Sinn, einen Schiedsrichter der 6,00 läuft, weiter pfeifen zu lassen, aber einen, der 6,01 läuft, nicht mehr. Mit der Leistungsdiagnostik in den vom DFB genutzten Sportkliniken kann man den Fitnesszustand umfassend analysieren. Doch in den letzten zehn bis 15 Jahren lagen die Probleme des deutschen Schiedsrichterwesens nicht in der mangelnden Fitness, sondern in den Qualitäten als Spielleiter.

Ich freue mich, dass Felix Brych infolge meines Prozesses weiterpfeifen durfte.

Manuel Gräfe

Bei Ihrer Klage gegen den DFB wegen Altersdiskriminierung forderten Sie auch 190.000 Euro Schadensersatz wegen Verdienstausfalls. Wäre es Ihnen uneigennützig nur um die Streichung der Altersgrenze gegangen, hätten Sie doch auf finanzielle Ansprüche verzichten können.

Leistungsgründe gab es erfreulicherweise bis zum Schluss keine. Auch wenn der Rechtsanwalt des DFB schrotflintenartig in wirklich alle Richtungen gegen mich geschossen hat. Er führte sogar aus, meine Leistungen könnten "gerade mal als guter Durchschnitt" bezeichnet werden. Offensichtlich trieb ihn die Hoffnung, irgendetwas werde beim Gericht schon hängenbleiben. Und wenn man mir schon die Freude an den Spielen sowie den Abenden mit Freunden und Kollegen nimmt - zu Unrecht wegen einer antiquierten sowie altersdiskriminierenden Regelung - dann sollte man auch für den finanziellen Schaden aufkommen. Nur für die Diskriminierung bekäme ich gerade mal die Gerichts- und Rechtsanwaltskosten ersetzt, zudem bestünde Wiederholungsgefahr. Ich freue mich, dass infolge meines Gerichtsprozesses Felix Brych weiterpfeifen durfte. Da hat der DFB auch das erstinstanzliche Urteil abgewartet, bevor er das Brych überhaupt angeboten hatte. Gut, dass die Altersgrenze nun gekippt wurde. Bedauerlich, dass es dafür erst den Prozess brauchte. Und ebenso bedauerlich war die fehlende eindeutige Reaktion des DFB auf das Urteil.

Was meinen Sie?

Dass der Schiedsrichterbereich nicht unbedingt auf mich zukommen würde, war nicht überraschend. Aber dass andere, höhere Gremien des DFB, der sich doch immer und vehement gegen Rassismus und Diskriminierung einsetzt, dann nicht mit einem konkreten Lösungsvorschlag auf mich zukamen, zeugt an dieser Stelle von Doppelmoral und einem weiterhin bestehenden Problem des DFB im Ganzen. Es gab natürlich auch Personen im DFB und bei der DFL, die mir unter vier Augen ihr Bedauern ausdrückten, sich teils explizit wünschten, es käme nochmal zu einem Comeback und dies sogar intern anschieben wollten.

Hätten Sie sich gewünscht, nochmal zu pfeifen nach eineinhalb Jahren Pause?

Warum nicht? Fit war und bin ich immer noch, spiele mehrmals in der Woche Fußball, Beachvolleyball, laufe und mache Fitness. Ich habe mich sogar extra im Sommer wie Winter in Trainingslagern vorbereitet, um jederzeit zu Saison- oder Rückrundenstart bereit zu sein, wenn es auf einmal doch das konkrete Angebot gegeben hätte. In jedem Fall hätte man mit Einsicht und natürlich beiderseits notwendiger großer Nachsicht konkreter ausloten können, ob man nicht noch einmal zusammenfinden möchte. Zumal mit Bernd Neuendorf ein neuer Präsident am Start war und ist, der gerade viel zum Besseren bewegen möchte. Auch Ronny Zimmermann als zuständiger Vize hätte dadurch meines Erachtens deutlich an Profil gewinnen können.

Wenn es einer von innen heraus schaffen kann, dann ist es Knut Kircher.

Manuel Gräfe

Im Sommer übernimmt Knut Kircher als neuer Schiri-Chef, der nach seiner Bundesliga-Laufbahn nur noch als Beobachter unterwegs und hauptberuflich Manager bei Mercedes AMG war. Viele aktive Schiris verbinden damit große Hoffnungen. Sie auch?

Ex-DFB-Präsident Reinhard Grindel fragte mich bei Fandels Ende als Chef nach geeigneten Nachfolgern. Da nannte ich Kircher und Fröhlich. Unter Lutz lief es aus genannten Gründen leider nicht gut, Knut hat als Manager aus der freien Wirtschaft sicher einen anderen Führungsansatz. Sein Eingangsstatement, es solle wieder mehr um Leistung, Klarheit und Transparenz gehen, war vielversprechend. Die Frage ist: Kann ein Einzelner das Schiedsrichterschiff wieder von innen stabil auf Kurs bringen oder wird er politisch ausgebremst? Ich habe deshalb in der Vergangenheit für eine externe Lösung wie Urs Meier plädiert. Aber wenn es einer von innen heraus schaffen kann, dann Knut Kircher.

Sie kritisieren immer wieder auch Jochen Drees, der seit 2018 den VAR-Bereich verantwortet. Muss Kircher seine Führungscrew verändern?

Jedem sollte man in einem neuen Arbeitsbereich Zeit geben. Doch wenn nach sechs Jahren immer noch keine Linie erkennbar ist, dann ist es nicht gut. Jochen ist ein absolut netter Kerl und vielleicht ein guter zweiter Mann im VAR-Zentrum. Aber als Chef reicht es offensichtlich eben leider nicht, wenn bestimmte Abläufe und die Eingriffsschwelle nach so langer Zeit immer noch nicht klar sind. Doch nochmal: Ich beziehe mich nie auf den Menschen, sondern auf die Leistung bzw. das Handeln als Schiedsrichterfunktionär oder Schiedsrichter. Und nach aller Kritik zuvor ist mir eines wichtig.

Nämlich?

Ich stelle fest, dass unter dem neuen Präsidenten Bernd Neuendorf beim DFB vieles in eine hoffnungsvoll erneuernde Richtung läuft. Mit Andreas Rettig wurde ein zuvor dem DFB gegenüber sehr kritischer Geist integriert. Julian Nagelsmann und Nia Künzer sind frische, mutige Personalien - und auch Knut Kircher ist eine gelungene Wahl.

Können Sie sich vorstellen, unter Kirchers Leitung wieder im DFB-Schiriwesen mitzuarbeiten?

Das ließe sich, in welcher Funktion auch immer, sicher nicht einfach realisieren. Aufgrund der Vorkommnisse der letzten Jahre, aber auch meiner Aufgabe beim ZDF oder diversen Interviews ist sicherlich einiges aufgekommen, was es schwierig machen würde. Aber gerade der Sport sollte Vorbild sein in unserer heutigen Zeit, in der die Gesellschaft immer weiter auseinanderdriftet. Deshalb würde ich mich dem nie verschließen. Ich erwarte nichts und kann es mir momentan schwer vorstellen. Doch bekanntlich soll man niemals nie sagen.

Interview: Carsten Schröter-Lorenz, Thiemo Müller